Renaissance des Wirtschaftsstandorts Deutschland

Gewerkschaft, Politik, Industrie und Wissenschaft setzen positives Zukunftsbild der Schwarzmalerei entgegen

14.06.2024 | Spätestens mit der erneuten Titelseitenzierung des britischen Nachrichtenmagazins The Economist, das 2023 Deutschland fragend als kranken Mann Europas darstellte, begann ein breiter Abgesang auf den hiesigen Industrie- und Wirtschaftsstandort. Unter dem Deckmantel schwindender Wettbewerbsfähigkeit versuchen verschiedene Akteure, ihre Agenda durchzudrücken: Neoliberale wollen mit einer plakativen Entbürokratisierung gesetzliche Arbeitnehmerrechte beschneiden, Konservative ihre Klientel vor Mehrbelastungen schützen, indem sie gegen die Sozialhilfeempfänger wettern. Arbeitgeberverbände sehen die massive Erhöhung des Renteneintrittsalters als Allheilmittel und einzelne Unternehmen drohen mit Verlagerung, sollten sie keine Subventionen erhalten. Zweifelsohne sind die Wirtschaftsaussichten nicht rosarot, allerdings lassen sich notwendige Wachstumsimpulse nicht durch Streich-Orgien und einseitige Beschäftigtenbelastungen lösen – so die feste Ansicht der IG Metall.

Im Rahmen ihrer jährlichen Bezirkskonferenz lud die Gewerkschaft daher Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zum Dialog, um gemeinsam über die Renaissance des deutschen Industriestandortes zu diskutieren. Zentraler Ansatzpunkt bleiben die hohen Energiepreise, welche sich als Wirtschaftshemmnis erweisen. Die IG Metall hat sich bereits frühzeitig für einen bezahlbaren Transformationsstrompreis stark gemacht, der gerade energieintensiven Branchen eine Brücke in die Zukunft schlagen soll, bis preisgünstige Energie durch die Erneuerbaren zur Verfügung steht. Dieser subventionierte Strompreis soll jenen Unternehmen zugutekommen, welche klare Standort- und Beschäftigungszusagen knüpfen und die Kriterien guter Arbeit erfüllen. Dafür hat die Gewerkschaft im vergangenen Jahr im Schulterschluss mit vielen Arbeitgebern Flagge gezeigt. Die Ampelregierung hat sich entschieden, eine solche Initiative nicht zu unterstützen und nicht umzusetzen – wenngleich ganze Bundesländer wie Niedersachsen sich hinter der Forderung der Gewerkschaft vereint haben und auch Bundeswirtschaftsminister Habeck den Handlungsdruck erkannt hat. Derweil verweilen die Preise weiter auf hohem Niveau im Vergleich zum Ausland, wo stattdessen Zukunftsinvestitionen nun hinfließen.

„Wir brauchen endlich Mechanismen, die die Preislast bei der Energie reduzieren. Im Übrigen auch für den Privatkonsumenten. Gleichwohl verharrt die Bundesregierung hier in Untätigkeit und nimmt billigend in Kauf, dass Investitionen, die Produktion und Beschäftigung an den hiesigen Standorten sichern, zunehmend in Frage gestellt werden. Zeitgleich ist Kanzler Scholz beim Ausbau der erneuerbaren Energien und den Zubauzielen von fünf Windrädern pro Tag als Tiger gestartet, aber inzwischen als Bettvorleger auf der Realität gelandet!“, attestiert Thorsten Gröger, IG Metall-Bezirksleiter für Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. In den nächsten zehn Jahren braucht es circa 500 Milliarden Euro, um mittels staatlicher Investitionen den Umbau und die Zukunftsfestigkeit des deutschen Wirtschaftsstandortes zu flankieren. „Nur mit einem gewaltigen, finanziellen Kraftakt werden wir die Potenziale für prosperierende Folgejahrzehnte heben können. Investitionszurückhaltung wäre Gift für die Industrie und damit verbunden auch hunderttausende Arbeitsplätze. Die Transformation kann, wenn sie von der Politik endlich richtig unterstützt wird, und Unternehmen sich ihrer Verantwortung für Zukunftsprodukte und Beschäftigung stellen, sich als Job- und Wohlstandsmotor erweisen - ob im ganzen Segment der erneuerbaren Energien, der Halbleiterindustrie oder rund um die Elektromobilität!“, untermauert Gröger.

Dafür müsste sich der Staat allerdings von seinen Finanzfesseln, wie beispielsweise der Schuldenbremse, lösen. „Wenn ein Haus bröckelt, investiert man. Und entweder man macht es richtig und schafft so eine Grundlage, dass für die nächsten Jahrzehnte der Sanierungsstau behoben ist, oder man begibt sich in kleinteilige Flickschusterei. Wenn man aber versucht, alles aus den laufenden Kosten zu stemmen, dann kann man sich entscheiden, ob es durch die Fenster oder die Haustür zieht. Und genauso sieht’s beim Staat auch aus: Wir brauchen eine massive Investitionsoffensive in die Klimaneutralität, die Industrie, die Infrastruktur und auch in die Bildungslandschaft!“, so der Metaller und fügt an: „Einerseits sollten diese gigantischen Herausforderungen kreditfinanziert gestemmt werden, andererseits müssen die Samthandschuhe gegenüber dem obersten Prozent der Gesellschaft abgestreift werden. Wer viel Kohle vererbt bekommt, durch Einkommen erhält oder von Dividenden in Millionenhöhe lebt, kann seinen Beitrag für die Zukunftsfähigkeit dieses Landes massiv erhöhen. Da dies niemals auf freiwilliger Basis geschehen kann, muss der Staat die Daumenschrauben für die Superreichen anziehen!“

Für die Gewerkschaftsseite hob im Rahmen einer Paneldiskussion in Braunschweig die Leiterin des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Sachsen-Anhalt, Susanne Wiedemeyer, hervor: „Ob der Einstieg in eine klimaneutrale Energieversorgung oder der Umstieg hin zu E-Mobilität – die Beschäftigten spüren täglich die sich ändernden Anforderungen an Produktion und Wirtschaft. Der strukturelle Wandel erzeugt neben vielen Chancen auch Unsicherheiten, ganz besonders in der klein- und mittelständisch geprägten Wirtschaft Sachsen-Anhalts. Die Politik ist daher gefordert, den Wandel aktiv und sozial gerecht zu gestalten. Neben zielgerichteten Aus- und Weiterbildungsangeboten sind Zukunftsinvestitionen in Infrastruktur und Wirtschaft für die Beschäftigungssicherung unumgänglich. Fördermittel für Ansiedlungen darf es nur mit Gegenleistung geben, und zwar in Form von guter Arbeit mit Tarifvertrag und Betriebsrat.“

Niedersachsens Ministerpräsident Weil unterstrich in der Löwenstadt: „Wir brauchen mehr Mut und Pragmatismus und wir müssen wieder einfacher, schneller und damit auch günstiger werden. Deshalb arbeiten wir in Niedersachsen intensiv daran, bürokratische Hindernisse abzubauen und insbesondere auch Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Zudem sollten wir die aktuelle Wirtschaftslage nicht nur als Risiko, sondern vor allem auch als Chance begreifen. Niedersachsen ist aufgrund des massiven Ausbaus von erneuerbaren Energien auf dem besten Weg das Energieland Nr. 1 zu werden. Zusammen mit unserer Wasserstoffstrategie stärken wir damit den Industriestandort Niedersachsen und machen ihn zukunftsfähig. Aber der Umbau unserer Wirtschaft benötigt auch erhebliche öffentliche Mittel, beispielsweise für den Ausbau der Wasserstoff- und Stromnetze. Ich bin deshalb fest überzeugt davon, dass wir die Schuldenbremse weiterentwickeln müssen, damit sie nicht immer mehr zur Investitionsbremse wird.“

Unterstützung erhielt die IG Metall auch von Prof. Dr. Jens Südekum, der an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Volkswirtschaft lehrt: „Die Konjunkturzahlen gehen zwar allmählich leicht nach oben, aber es verbleiben noch große Aufgaben. Vor allem bei den privaten und öffentlichen Investitionen muss deutlich mehr passieren, damit wir international wettbewerbsfähig bleiben. Das wird den Staat zwar erstmal Geld kosten, aber es wird sich auszahlen. Die aktuelle Schuldenbremse darf diesem Modernisierungskurs nicht im Wege stehen. Sie braucht eine Reform, damit wir endlich in dem Maße in die Zukunft investieren können, wie das notwendig und richtig ist.“

Aus Sicht von Tobias Hoffmann, stellvertretender Präsident der IHK Niedersachsen, braucht es folgende Impulse, um der deutschen Wirtschaft den notwendigen Schub zu geben: „Was wir zunächst einmal festhalten müssen: Die deutsche Wirtschaft gerät zunehmend in eine Schieflage und einige Branchen haben sogar mit krisenhaften Entwicklungen zu kämpfen. Dazu kommt: der Standort Deutschland verliert im In- und Ausland an Attraktivität. Ausbleibende Investitionen und negative Konjunkturerwartungen unterstreichen dies. Um aus diesem Tal wieder herauszukommen, brauchen wir als Land, aber auch jeder Einzelne von uns, wieder mehr "Gestaltungsoptimismus". Hierunter verstehe ich Lust auf Zukunft, Lust auf Innovation. Um diese Lust zu entfachen, muss Bürokratieabbau endlich mehr als bloße Ankündigung sein. Wir fordern unsere Landesregierung und die Bundesregierung auf, hier endlich den Mut zu haben, sich von unnötigen und belastenden Vorschriften zu verabschieden. Nur wenn uns Unternehmerinnen und Unternehmern durch das Lösen der bürokratischen Fesseln wieder Luft bleibt, zu handeln, zu entwickeln und zu unternehmen, können wir die Wirtschaft in unserem Land revitalisieren.“

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